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Längeres Vermarktungsfenster dank eines dynamischen Mindesthaltbarkeitsdatums?
26.09.2019
Für die Verbraucher ist das Mindesthaltbarkeitsdatum eine wichtige Orientierung über die Genießbarkeit eines Produkts. Ist das Datum überschritten, kann das Lebensmittel nicht mehr verkauft werden. In Privathaushalten führen Missverständnisse über die Bedeutung des Datums zu häufig zur Entsorgung von Lebensmitteln, die in vielen Fällen noch nicht verdorben sind. Prof. Dr. Judith Kreyenschmidt, Professur für Qualität und Verarbeitung frischer Lebensmittel an der Hochschule Geisenheim University, forscht derzeit an alternativen Darstellungen, die die tatsächliche Haltbarkeit des jeweiligen Lebensmittels wiedergeben. Für sie sind die sogenannten dynamischen Haltbarkeitsdaten eine Möglichkeit, in Zukunft die Entsorgung noch genießbarer Nahrungsmittel zu verringern.
BVE: Sie forschen an
dynamischen Haltbarkeitsdaten für Lebensmittel. Worum geht es dabei genau? Wie funktionieren solche DHDs?
Prof. Dr. Kreyenschmidt: Die Haltbarkeit von vielen kühlpflichtigen Produkten hängt neben der Prozesshygiene und dem Verpackungssystem signifikant von der Lager- und Transporttemperatur ab. Beispielsweise reduziert sich die Haltbarkeit von frischem unverpacktem Schweinefleisch um knapp 30%, wenn es bei 4°C anstatt bei 2°C gelagert wird. In komplexen kühlpflichtigen Supply Chains kommt es immer wieder zu Veränderungen der Produkttemperatur aufgrund schwankender Umgebungstemperaturen. Diese wirken sich unmittelbar auf die Haltbarkeit eines Produktes aus. Diese Veränderungen der tatsächlichen Resthaltbarkeit eines Produktes werden durch das derzeitige Mindesthaltbarkeits- oder auch Verbrauchsdatum nicht wiedergespiegelt. Das heißt, je nach Temperaturbedingungen in der Kette sind viele Produkte noch im guten Zustand nach Ablauf des MHDs, während andere aufgrund von Temperaturschwankungen bereits verdorben sind.
Bei dem dynamischen Haltbarkeitsdatum wird die Temperaturhistorie eines Produktes zur Bestimmung von Resthaltbarkeitszeit in Echtzeit an wichtigen Punkten einer Supply Chain genutzt.
Die Einführung solcher dynamischen Systeme erfordert jedoch vorab umfangreiche Untersuchungen. Da der Einfluss der Temperatur auf den Frischeverlust eines Lebensmittels unterschiedlich ist, müssen zunächst Lagerstudien mit den jeweiligen Produkten bei unterschiedlichen Temperaturen durchgeführt werden. Basierend auf den erhobenen Daten lassen sich entsprechende Haltbarkeitsmodelle entwickeln. Diese Modelle werden mit Temperaturüberwachsungssystemen verknüpft und ermöglichen so die Bestimmung der Haltbarkeit in Echtzeit. Langfristig ist es somit denkbar, dass der Konsument kein fixes aufgedrucktes MHD mehr auf der Verpackung sieht, sondern digitale Preisschilder, die die Resthaltbarkeit in Echtzeit anzeigen.
Auch ist es möglich, dass der Konsument durch eine App für ein Smartphone die verbleibende Resthaltbarkeit eines Produktes zu Hause bestimmen kann. Grundvoraussetzung für die Berechnung der Resthaltbarkeit ist eine gute produktbegleitende Temperaturüberwachung. Hier werden derzeit weltweit verschiedene Ansätze diskutiert, wie die Nutzung von drahtlosen Überwachungssystemen (RFID- und Bluetooth-basierende Systeme) oder die Nutzung von Zeit-Temperatur-Indikatoren, die man aufgrund der geringen Kosten an jedem Produkt anbringen kann.
BVE: Welche Potenziale sehen Sie beim dynamischen Haltbarkeitsdatum in Hinblick auf das Problem der Lebensmittelverschwendung?
Prof. Dr. Kreyenschmidt: Es gibt zahlreiche Ursachen für das Verwerfen von Lebensmitteln. Kühlpflichtige Produkte wie Fleisch und Fleischerzeugnisse werden sehr häufig im Handel und beim Verbraucher verworfen, weil das MHD abgelaufen oder fast abgelaufen ist, insbesondere aufgrund von möglichen Gesundheitsgefährdungen. Unsere Studien zeigen jedoch, dass viele dieser Produkte auch nach Ablauf des MHDs noch in einem sehr guten Zustand und verzehrbar sind. Trotzdem werden Sie verworfen, weil es derzeit an kostengünstigen Schnellmethoden mangelt, die direkt Auskunft über den Zustand oder die wirkliche Resthaltbarkeit geben. Ein weiterer Grund für das Verwerfen von leichtverderblichen Lebensmitteln sind Kühlkettenunterbrechungen entlang der Lieferkette. Da derzeit wenig Wissen darüber herrscht, wie sich diese Unterbrechungen auf die Qualität und Sicherheit unterschiedlicher Produkte auswirken, werden auch aus diesem Grunde die Produkte im Zweifelfall eher verworfen.
Genau hier können dynamische Haltbarkeitszeiten helfen, Ausschüsse zu reduzieren. Sie können den Akteuren sowie Verbrauchern direkt anzeigen, wie lange die tatsächliche Haltbarkeit eines Produktes aufgrund der Temperaturhistorie des Produktes wirklich ist und ob das Lebensmittel nach Ablauf des MHDs noch genießbar ist. Auch können die heute vielfach enthaltenden Sicherheitsspannen im MHD signifikant verkürzt werden, was für viele Akteure ein längeres Vermarktungsfenster bedeutet. Durch längere Vermarktungsfenster können Ausschüsse je nach Produkt und Supply Chain messbar reduziert werden.
BVE: Wie groß können die Unterschiede zwischen dem herkömmlichen Mindesthaltbarkeitsdatum und dem dynamischen sein? Bei welchen Produktgruppen gibt es kaum Differenzen?
Prof. Dr. Kreyenschmidt: Diese Frage kann man nicht generell beantworten. Hier spielen viele Faktoren eine Rolle. Da die Festlegung des MHDs und der Sicherheitsspanne durch den Produzenten definiert wird oder z.T. auch vom Handel gewisse Restlaufzeiten gefordert werden, können die MHDs bei ein und demselben Produkt sehr unterschiedlich sein, dementsprechend natürlich auch der Unterschied zu der tatsächlichen Haltbarkeit. Weiterhin hat die Temperaturhistorie des Produktes in der Supply Chain einen großen Einfluss auf die Differenz beider Daten. Ein Beispiel: wenn ein Produzent von frischem, aerob verpacktem Schweinefleisch ein MHD von 4 Tagen bei 7°C gibt, kann bei Temperaturbedingen von ca. 2°C in einer Kühlkette die tatsächliche Haltbarkeit, die das dynamische Datum anzeigen würde, doppelt so lang sein.
BVE: Sie sind in verschiedene Forschungsprojekte, die dieses Thema behandeln, involviert, wo besteht derzeit noch Forschungsbedarf bzw. welche Fragen müssen noch geklärt werden?
Prof. Dr. Kreyenschmidt: Unsere Forschungsergebnisse der letzten Jahre zeigen, dass man durch die Verknüpfung von Temperaturdaten mit Haltbarkeitsmodellen tatsächliche Restlaufzeiten an unterschiedlichen Stufen der Supply Chain sehr gut berechnen kann.
Um jedoch genaue Vorhersagen treffen zu können, ist eine Überwachung der Produkttemperatur, wie zuvor schon erwähnt, zwingend erforderlich. Denkbar ist hier die Nutzung von RFID oder Bluetooth basierten Überwachungssystemen. Dieser Ansatz wird im Rahmen des vom BMBF geförderten Fresh-Index Projekts verfolgt, die Firma tsenso ist dabei für die Entwicklung des Temperaturmonitoringsystems zuständig, wir führen die Haltbarkeitsstudien mit frischem Schweinefleisch durch und entwickeln das Modell. Basierend auf diesem Modell wird der Index zur Frischebestimmung gemeinsam mit tsenso entwickelt. In einem anderen Verbundprojekt, „Intelli-Pack“, welches von dem BMEL gefördert wird, verfolgen wir einen anderen Ansatz. Hier setzen wir auf die Messung der Produkttemperatur durch sogenannte intelligente Etiketten. Diese zeigen durch einen Farbverlauf die Temperaturhistorie eines Produktes an. Je mehr das ursprünglich dunkelblaue Label verblasst, desto geringer ist die verbleibende Restlaufzeit, da die Reaktion von Zeit und Temperatur abhängt. Durch die Entwicklung einer App, die durch die EUFH, einem der zehn Projektpartner, erfolgt, kann die Farbe des Labels durch ein Foto bestimmt werden. Dem Nutzer wird dann ausgehend von dem erfassten Farbwert automatisch die noch verbleibende Restlaufzeit auf dem Smartphone angezeigt. Dieses System wird derzeit für Produkte wie Rohwürste, Ready-to-Eat Salate und Fisch erprobt. Weiterhin werden im Rahmen des Projektes mit den Partnern Ansätze zur Optimierung der logistischen Strukturen und der Lagerhaltungssysteme auf Basis der zusätzlichen Informationen entwickelt, die durch ein solches Label geliefert werden. Dadurch können in Zukunft Lebensmittelausschüsse signifikant reduziert werden. Auch werden rechtliche Aspekte sowie die Verbraucherakzeptanz solcher Etiketten durch die Universität Bayreuth und die FH Münster untersucht.
Um dynamische Haltbarkeitszeiten langfristig zu etablieren, bedarf es jedoch noch mehrerer Validierungsstudien, diese werden auch im Rahmen der Projekte durchgeführt. Weltweit arbeiten derzeit verschiedene Forschergruppen an diesem Thema, da dieser Ansatz einen großen Beitrag zu einer nachhaltigen Lebensmittelproduktion liefern kann.
BVE: Vielen Dank für das Interview, Frau Prof. Dr. Kreyenschmidt!