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„Tolle Beispiele für die Zusammenarbeit mit der Ernährungsindustrie“
23.04.2020
Die Corona-Pandemie sorgt überall für Probleme. Lebensmittelunternehmen, die für den Außer-Haus-Markt produzieren, brechen die Absatzmöglichkeiten weg, während es den Tafeln an Lebensmittelsspenden aus dem Einzelhandel fehlt. Evelin Schulz, Geschäftsführerin der Tafel Deutschland e.V., spricht im Interview über die Arbeit der Tafeln in der Krise und Unterstützungsmöglichkeiten.
BVE: Der Slogan der Tafeln heißt: „Lebensmittel retten. Menschen helfen.“ Was macht die Arbeit der Tafeln in ganz Deutschland so wichtig?
Evelin Schulz: In Deutschland sind flächendeckend über 940 Tafeln mit mehr als 2.000 Ausgabestellen aktiv. Wir retten mit 60.000 Tafel-Aktiven jährlich 265.000 Tonnen Lebensmittel, das entspricht etwa 500 kg in der Minute. Die geretteten Lebensmittel stellen die Tafeln den Menschen zur Verfügung, die sich in Notsituationen befinden. 1,65 Mio. Menschen nutzen regelmäßig die Angebote der Tafeln, um am Ende des Monats noch die Miete bezahlen zu können oder den Schulausflug der Kinder.
Die Lebensmittel werden zum größeren Teil vom lokalen Lebensmittelhandel gespendet und von Ehrenamtlichen dort eingesammelt, in der Tafel sortiert und ausgegeben. Großspenden von Herstellern und Produzenten vermittelt der Dachverband Tafel Deutschland an die Landesverbände, deren ehrenamtliche Logistikerinnen und Logistiker die gerechte Verteilung an die lokalen Tafeln koordinieren. Die Tafeln tragen aktiv zur Lebensmittelrettung in Deutschland bei.
Tafeln sind auch längst viel mehr als Lebensmittelausgaben. Sie bieten darüber hinaus Angebote für Kinder und Jugendliche wie Hausaufgabenhilfe, Mittagsbetreuung, Ferienfahrten, Kochkurse oder kulturelle Projekte an. Für Erwachsene gibt es beispielsweise Beratungsangebote, Mittagscafés, gemeinsame Spaziergänge oder ein warmes Mittagessen.
BVE: Die Corona-Pandemie sorgt überall für Probleme. Besonders hart betroffen sind jedoch Menschen, deren finanzielle Lage schwierig ist und die auf die Arbeit der Tafeln angewiesen sind. Was sind momentan die größten Herausforderungen?
Evelin Schulz: Ja, Menschen, die sich schon vor der Corona-Situation in einer schwierigen Lage befunden haben, leiden nun noch mehr. Sie geraten an ihre finanziellen Grenzen, da wegen Kita- und Schulschließungen mehr Familienmitglieder zuhause versorgt werden müssen, der Arbeitgeber Kurzarbeit angemeldet hat oder kündigen musste.
Die Tafeln selbst haben über die Jahre gelernt mit Krisen umzugehen. Sie sind es gewohnt, sich schnell auf neue Rahmenbedingungen einzustellen. Doch in der jetzigen Ausnahmesituation muss das komplette Arbeitsmodell der Tafeln transformiert werden. Tafeln waren Orte der physischen Begegnung, an denen ganz unterschiedliche Menschen zusammengekommen sind. Diese Form der Tafel-Arbeit ist nun undenkbar und wird es wohl über einen längeren Zeitraum auch noch bleiben. Erschwerend kommt hinzu, dass mit über 60 % die größte Gruppe der Ehrenamtlichen über 65 Jahre alt ist und damit zur Risikogruppe zählt.
Während die Tafel-Aktiven mit der Umrüstung ihrer Ausgaben beschäftigt sind, neue Helferinnen und Helfer suchen oder Lieferdienste etablieren, bleiben vielerorts die Lebensmittelspenden aus. Das liegt zum einen daran, dass in den Filialen weniger übrigbleibt, zum anderen auch daran, dass lokale Lebensmittelhändler keine personellen Ressourcen für die Bereitstellung von Lebensmitteln für die Tafeln erübrigen können.
Eine Herausforderung für den gesamten Verband auf der Bundes-, der Landes- und der lokalen Ebene ist derzeit auch die ausbleibende finanzielle Unterstützung. Problematisch sind hierbei vor allem die laufenden Kosten (Miete, Versicherungen, Kosten für Fahrzeuge, teilweise Personal), die sowohl bei Öffnung als auch Schließung der Einrichtung weiterlaufen und gezahlt werden müssen. Die Tafeln sind fast ausschließliche spendenfinanziert und fürchten einen Rückgang der Geldspenden aufgrund der unsicheren wirtschaftlichen Lage.
BVE: Wie können die Unternehmen der Ernährungsindustrie die Tafeln direkt unterstützen? Welche Spenden bieten sich an? Wo gibt es Probleme?
Evelin Schulz: Auch bei den Produzenten fallen oft Lebensmittelüberschüsse an, die dann in Großmengen an die Tafel Deutschland gespendet werden. Tafeln benötigen gerade jetzt langhaltbare Lebensmittel, vor allem Trockenware, aber auch frische Lebensmittel, da diese vor Ort derzeit seltener abgegeben werden. Häufig werden Drogerie-, Hygiene- und Desinfektionsartikel gebraucht, da es in den Supermärkten oft nur noch die teuren Markenprodukte gibt, die sich bedürftige Menschen nicht leisten können.
Für die Umstellung auf kontaktarme oder kontaktlose Tafel-Arbeit benötigen die Tafeln auch dringend Unterstützung mit Verpackungsmaterialien. Die Logistik der Großspenden kann durch Lagerflächen, insbesondere im Kühl- und Tiefkühlbereich, oder durch Transporte unterstützt werden. Der Tafel Deutschland fehlen diese Lagerflächen, die wichtig wären, um gerade jetzt notwendige Warenspenden annehmen zu können.
Auch auf Geldspenden sind die Tafeln derzeit angewiesen. Sie brauchen Mittel, um in der Ausnahmesituation die laufenden Kosten zu tragen, sonst werden einige Tafeln die Krise nicht überstehen können. Die Einrichtung neuer Modelle der Tafel-Arbeit, die Koordinierung vieler hunderte neuer Freiwilliger oder die Auslieferung von Lebensmitteln an Menschen, die das Haus nicht mehr verlassen dürfen, sind neue Bereiche, in denen Kosten entstehen.
BVE: Können Sie schon von gelungenen Kooperationen zwischen den Tafeln und der Ernährungsindustrie berichten?
Evelin Schulz: Ja, es gibt bereits tolle Beispiele für die Zusammenarbeit mit der Ernährungsindustrie. Eine gelungene Kooperation ist die mit Kellogg´s. Das Unternehmen arbeitet mit drei Großstadttafeln bereits seit Jahren erfolgreich zusammen und spendet Ware. Die Großspenden an die drei Tafeln wurden zum Teil auch schon über die Tafel Deutschland verteilt. Im Rahmen der Corona-Krise bietet uns Kellogg´s nun mehrere LKW-Ladungen Frühstückscerealien an. Es wurden außerdem Absprachen darüber getroffen, dass Kellogg´s Waren kurz vor dem Mindesthaltbarkeitsdatum spendet, wenn diese vorliegen. Hierfür werden dann Unbedenklichkeitsbescheinigungen ausgestellt. Es freut uns sehr, dass Kellogg´s zusätzlich weiterhin für die drei lokalen Tafeln aktiv ist.
In dieser Krise hat es uns ebenfalls sehr geholfen, dass uns Unilever und Werner & Mertz mit Großspenden an Hygiene-Produkten, wie Deo, Duschgel, Shampoo, Seife und Body Creme unterstützt haben. Die Firma blueplanet Investments AG spendet jede Woche 200 Liter Desinfektionsmittel von SOLVID zur Abholung für alle Landesverbände, die diese dann an die Tafeln weiterverteilen.
BVE: Welche Weichen müssten gestellt werden, damit die Tafeln ihr Potenzial voll ausschöpfen und noch mehr Menschen helfen können? Inwieweit bietet zum Beispiel die Digitalisierung Möglichkeiten, die Lebensmittelspenden zu optimieren?
Evelin Schulz: Aus unserer Sicht ist die Unterstützung der Tafeln in der Restrukturierung der Tafel-Arbeit und die Anpassung der kontaktarmen und kontaktlosen Tafel-Arbeit eine Grundvoraussetzung. Zielsetzung ist die bundesweite Wiedereröffnung aller Tafeln unter Einhaltung der notwendigen Sicherheitsmaßnahmen. Lebensmittel vor der Vernichtung zu retten und an bedürftige Menschen weiterzugeben, ist für viele Menschen eine sinnhafte Aufgabe im Ehrenamt. Vor allem jüngere Menschen unterstützen die Tafeln vor Ort gerade sehr. Diese Helferinnen und Helfer auch langfristig an die Tafel-Arbeit zu binden, ist eine wichtige Voraussetzung, um weiterhin Menschen helfen zu können.
Lebensmittelrettung und Digitalisierung zu verbinden ist ein weiterer Schlüssel zur erfolgreichen Umsetzung dieses Vorhabens. Wenn Tafel-Aktive vor Ort oder die Landesverbände mit ihren Verteilerzentren durch eine digitale Anwendung tagesaktuell erfahren, wo welche Waren abgegeben werden, egal ob im lokalen Supermarkt oder durch einen Großbetrieb der Ernährungsindustrie, können sie schnell und effizient reagieren.
Eine digitale Lösung in Form einer Plattform wird bereits erarbeitet. Sie wird in Zukunft neben der Erhöhung der geretteten Lebensmittelmengen auch eine gerechtere Verteilung ermöglichen. So können Lebensmittel aus Regionen mit hoher Unternehmensdichte und vielen Spenden in strukturschwache Regionen mit weniger Lebensmittelspenden abgegeben werden. Wichtige Voraussetzung für die Anbindung an diese Plattform ist es, dass wir neben den Handelspartnern viele Unternehmen der Ernährungsindustrie gewinnen können, die sich mit uns digital vernetzen.
BVE: Vielen Dank für das Interview, Frau Schulz!
Zahlreiche Unternehmen kooperieren bereits mit den Tafeln oder anderen Organisationen. All diejenigen, die aufgrund der Corona-Krise nun vermehrt Lebensmittel nicht verkaufen können, finden unter www.tafel.de/tafel-suche schnell und einfach den Kontakt zur lokalen Tafel. Speziell für Großspenden gibt es bei den Tafeln Deutschland zudem eine Ansprechpartnerin, an die sich Unternehmen mit ihren Anliegen wenden können: Alina Scheufele (030 200 59 76-14, scheufele@tafel.de).