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Neuer, pandemiebedingter Forschungsbedarf
07.01.2021
Der Forschungskreis der Ernährungsindustrie (FEI) ist die zentrale Forschungsorganisation der deutschen Lebensmittelwirtschaft. Selbstverständnis und Tätigkeiten des FEI basieren auf der Idee, industrienahe Forschung über die Grenzen des Wettbewerbs einzelner Unternehmen hinaus gemeinsam zu organisieren – vor allem für kleine und mittelständische Unternehmen (KMU). Durch direkte Mitgliedschaft sowie über 49 Wirtschaftsverbände und Branchenorganisationen profitieren rund 6.000 Unternehmen der deutschen Lebensmittelindustrie sowie über 30.000 Betriebe des Lebensmittelhandwerks regelmäßig von den Forschungsaktivitäten des FEI: Jährlich koordiniert der FEI rund 100 Projekte der Industriellen Gemeinschaftsforschung (IGF) und kooperiert mit über 120 Forschungseinrichtungen an Hochschulen, Bundes- und Landesforschungsanstalten sowie Instituten anderer öffentlicher oder privater Träger. In diesen Forschungseinrichtungen werden die IGF-Projekte in enger Abstimmung mit der Industrie durchgeführt. Die BVE hat mit FEI-Geschäftsführer Dr. Volker Häusser über die Vorteile der IGF und Forschung in Zeiten von Covid-19 gesprochen.
BVE: Herr Dr. Häusser, in 2019 lag das Fördermittel-Jahresetat des FEI zum dritten Mal in Folge über der 12-Millionen-Euro-Marke, 30 neu bewilligten Forschungsprojekten kamen zu insgesamt 100 laufenden Projekten dazu. Mit Blick in die Vergangenheit, wie bewerten Sie die Entwicklung der letzten Jahre?
Dr. Volker Häusser: Die deutsche Lebensmittelindustrie ist mehr als andere Wirtschaftsbranchen von einer Vielzahl kleiner und mittlerer, häufig noch familiengeführter Unternehmen (KMU) geprägt, die in der Regel über keine oder nur sehr geringe eigene Forschungskapazitäten verfügen. Für ihre Innovationsaktivitäten sind diese Unternehmen in besonderem Maße auf eine enge Zusammenarbeit mit der Wissenschaft angewiesen, um im internationalen Wettbewerb überhaupt bestehen zu können.
Der FEI füllt mit seinen Gemeinschaftsforschungsprojekten angesichts fehlender anderer geeigneter Fördermaßnahmen eine wichtige Lücke im Innovationsgeschehen: Seine IGF-Projekte sind themenoffen, haben sehr geringe Beteiligungsschwellen für KMU und sind offen für alle Interessierten. Dadurch ist dieses Programm maßgeschneidert für die Bedürfnisse der Lebensmittelwirtschaft. Das zeigt das breite Themenspektrum unserer Vorhaben, das von Fragen des gesundheitlichen Verbraucherschutzes bis hin zu den Auswirkungen des Klimawandels reicht. Die hohe Zahl von über 1.000 Unternehmen, die derzeit in die 130 laufenden IGF-Projekte des FEI eingebunden sind, verdeutlicht die hohe Breitenwirksamkeit und Attraktivität dieser Fördermaßnahme. Unser Budget war mit rund 12 Mio. Euro in den letzten Jahren zwar erfreulich stabil, dennoch reicht die finanzielle Unterstützung nicht aus, um alle Themen bearbeiten zu können. Hier könnte mit vergleichsweise geringen öffentlichen Mitteln eine noch höhere Hebelwirkung erzielt werden.
BVE: Vor welchen Herausforderungen stehen Unternehmen der Ernährungsindustrie im Bereich der Forschung und Entwicklung und inwieweit kann die Industrielle Gemeinschaftsforschung hierbei unterstützen?
Dr. Volker Häusser: Die wissenschaftlich-technologischen Fragestellungen sind in der Lebensmittelindustrie von Natur aus größer als in anderen Branchen, wie z.B. dem Maschinenbau, die eben nicht täglich vor der Herausforderung stehen, bei wechselnden biologischen Rohstoffen stets Produkte gleichbleibender höchster Qualität produzieren zu müssen. Hinzu kommen wachsende Anforderungen der Verbraucher bezüglich der Natürlichkeit oder des gesundheitlichen Werts von Lebensmitteln oder bezüglich ihrer schonenden und nachhaltigen Verarbeitung. Vorgaben zur Einhaltung immer engerer Grenzwerte, zum Beispiel für Prozesskontaminanten wie Acrylamid oder Furan, zwingen zur Erarbeitung von Minimierungsstrategien. Die zunehmenden globalen Warenströme machen es notwendig, neue Wege zur Qualitätssicherung und bei der Rückverfolgbarkeit zu beschreiten. Die Suche nach neuen energieeffizienten Herstellungsprozessen und nach neuen Rohstoffquellen, zum Beispiel zum Ersatz tierischer Proteinquellen, sind weitere Beispiele für die enormen Herausforderungen der Branche.
Die Komplexität dieser Themen überfordert jedes mittelständische Unternehmen; derartige Fragen können nur gemeinsam, das heißt im Rahmen der IGF, bearbeitet werden – oder sie bleiben gänzlich unbearbeitet.
BVE: Die Corona-Pandemie hat den Alltag, wie wir ihn kennen, grundlegend verändert. Welchen Einfluss hat die Pandemie auf die laufenden und geplanten Forschungsvorhaben?
Dr. Volker Häusser: Die Bewältigung der Corona-Pandemie stellt uns alle vor neue Herausforderungen. Der Fokus der Ernährungsindustrie als systemrelevantem Wirtschaftsbereich liegt dabei naturgemäß momentan mehr auf der Sicherstellung der Versorgung der Bevölkerung und der Aufrechterhaltung der Lieferketten als auf der Forschung. Der Lockdown hat zudem nicht haltgemacht vor unseren Forschungseinrichtungen: Viele Labore und Technika waren fünf Monate komplett geschlossen und arbeiten seitdem vielerorts nur mit halber Kraft, so dass sich der Abschluss vieler Projekte verzögert.
Andererseits spiegeln die Themen geplanter neuer IGF-Projekte auch einen neuen, pandemiebedingten Forschungsbedarf wider, zum Beispiel die Entwicklung von Methoden zur Detektion und Sequenzierung von Viren in Lebensmitteln, die Gestaltung pandemiegerechter Arbeitsplätze für die fleischverarbeitende Industrie oder die Entwicklung innovativer Belüftungssysteme für die Lebensmittelproduktion.
BVE: Welche Rahmenbedingungen muss die Politik jetzt schaffen, um die Industrielle Gemeinschaftsforschung in Zeiten der Pandemie zu unterstützen?
Dr. Volker Häusser: Die Politik hat gerade in der jetzigen Situation die Verantwortung, die mit der IGF langfristig aufgebauten Netzwerke von Industrie und Wissenschaft zu erhalten und besser zu fördern – auch durch weniger Bürokratie.
Das Potential der IGF als Impulsgeber und Motor für die Innovationsaktivitäten des Mittelstands kann noch deutlich gesteigert werden: Jeder zusätzliche Euro ist eine Investition in die Zukunft mit hoher Dividende, von der die gesamte deutsche Industrie profitiert.
BVE: Herr Dr. Häusser, wir bedanken uns für das Gespräch.