Inhalt
"Hinter uns liegt ein sehr bewegtes Jahr“
13.01.2021
In 2020 hat die Corona-Pandemie vieles auf den Kopf gestellt. Im Interview mit der Lebensmittel Zeitung blickt Dr. Christian von Boetticher, Vorstandsvorsitzender der Bundesvereinung der Deutschen Ernährungsindustrie (BVE), auf das vergangene Jahr zurück, zieht Lehren aus der Corona-Krise und wagt einen Ausblick auf 2021.
Lebensmittel Zeitung: Was erwarten Sie von der Großen Koalition noch vor Ablauf der Legislaturperiode? Wie fällt Ihre Bilanz zur Arbeit der Bundesregierung aus?
Dr. Christian von Boetticher: Hinter uns liegt ein sehr bewegtes Jahr: Mit einem enormen Kraftakt hat die deutsche Ernährungsindustrie die Versorgung in der Pandemie sichergestellt und damit entscheidend zur Rückgewinnung-nung eines Sicherheitsgefühls bei den Menschen in unserem Land beigetragen. Was unsere Unternehmen jetzt an erster Stelle benötigen sind Stabilität, Planbarkeit und Perspektiven. Ob und wie die Große Koalition dafür sorgt, wird ihre Bilanz maßgeblich beeinflussen. Daher erwarte ich auch von SPD und CDU/CSU für den Bundestagswahlkampf eine „Neue Normalität“. Denn: Einen politischen Leerlauf bis zur Wahl können und dürfen wir uns nicht leisten. In diesen Zeiten ist es notwendig, dass die Bundesregierung bis zum letzten Tag arbeitet. Neben der Gestaltung der Corona-Lage und der Stärkung der Resilienz der Wirtschaft müssen gerade den Unternehmen Freiräume für Wachstum, Beschäftigung und Innovation geschaffen werden, anstatt Unternehmertum durch immer mehr Regulierung und staatliche Eingriffe einzuschränken. Aus Sicht der Lebensmittehersteller gehört dazu unter anderem ein praktikabler Lösungsvorschlag für die Debatten um ein nationales Lieferkettengesetz und das Arbeitsschutzkontrollgesetz. Auch in den transatlantischen Beziehungen ist ein Neustart dringend geboten. Der Handelskrieg zwischen Europa und den USA darf nicht länger auf dem Rücken unserer unbeteiligten Unternehmen ausgetragen werden.
Lebensmittel Zeitung: Was sind die Lehren aus der Covid19-Krise?
Dr. Christian von Boetticher: Dazu zählen für mich drei Punkte. Erstens: Die wichtigste Erkenntnis ist die Notwendigkeit eines abgestimmten Vorgehens zwischen den Bundesländern und auf europäischer Ebene. Wenn die Politik hier besser wird, können logistische Herausforderungen zukünftig schneller gelöst werden und der Nachschub für die Regale in den Supermärkten wird gesichert.
Zweitens: Die Corona-Krise hat die Chancen der Digitalisierung offenbart. Wir müssen Digitalisierung endlich oben auf die politische Agenda setzen. Das bisher Geleistete der Großen Koalition ist trotz aller Ankündigen ausbaufähig.
Und Drittens: Wir müssen wehrhaft in der Argumentation gegenüber Renationalisierungstendenzen bleiben. In einem System, dass Versorgungssicherheit garantiert, haben regionale Wertschöpfungsketten ohne Frage einen festen Platz. Damit dieses System jedoch stabil bleibt, ist die deutschen Ernährungsindustrie auf den Export und Import angewiesen. Fakt ist: Internationaler Handel schwächt regionale Strukturen nicht, sondern stärkt sie. Hier dürfen wir nicht müde werden, immer wieder darauf hinzuweisen.
Lebensmittel Zeitung: Worauf muss sich die Branche in 2021 in Bezug auf Corona noch einstellen?
Dr. Christian von Boetticher: Mit großer Sorge blicken wir auf die Auswirkungen der Restaurant-schließungen. Der Außer-Haus-Markt ist für unsere Unternehmen neben dem Lebensmitteleinzelhandel ein wichtiger Absatzkanal. Aber auch die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung hat Auswirkungen auf unsere Branche. Schon jetzt zeigen das gedämpfte Kaufverhalten der Verbraucher und die schwache globale Nachfrage im Exportgeschäft sowie die Beschränkungen beim Import Wirkung auf die Geschäftserwartungen der Lebensmittelhersteller. So blicken viele eher pessimistisch auf das kommende Jahr. Eine tatsächliche Besserung zeichnet sich wohl erst ab, wenn ein Impfstoff auf dem Markt ist und die Impfstrategie der Bundesregierung erfolgreich umgesetzt wird.
Doch auch mit einem Impfstoff ist noch nicht abzusehen, inwieweit nicht auch langfristige Veränderungen über die Corona-Pandemie hinaus Einfluss auf die Ernährungsbranche haben. Ein insgesamt verändertes Kaufverhalten und veränderte Konsumzyklen aufgrund veränderter Alltagsstrukturen können sich manifestieren.
Zudem wird die beschleunigte Digitalisierung von Geschäftsprozessen den Unternehmensalltag bestimmen.
Gleichzeitig hat das Thema Stärkung der Resilienz in den Unternehmen auch das Thema Nachhaltigkeit noch stärker in den Fokus gerückt, das Ziel ist eine nachhaltige Transformation. Die Corona-Krise geht daher nicht spurlos an den Unternehmen der Ernährungsindustrie vorbei: im Guten wie im Schlechten.
Lebensmittel Zeitung: Was erwartet die BVE von der EU-Kommission im kommenden Jahr? Welche Vorhaben aus Brüssel könnten einschneidende Folgen für die Branche haben?
Dr. Christian von Boetticher: Das dynamische Geschehen durch Corona wird auch die Umsetzung des Kernzieles der EU Kommission, das klimaneutrale Europa, beeinflussen. Die nun im Green Deal zu definierenden Maßnahmen müssen mehr denn je auch ihre wirtschaftliche Tragfähigkeit beweisen. Neben dem starken Fokus auf Maßnahmen zur Klimaneutralität enthält der Green Deal mit der Vom Hof auf den Tisch Strategie und dem Aktionsplan Kreislaufwirtschaft zahlreiche Vorhaben, die erhebliche Investitionen in der Branche erfordern. Die Verschärfung des Klimaziels - eine Senkung der Treibhausgasemissionen von mindestens 55 Prozent statt 40 Prozent herbeizuführen – stellt nicht nur die Unternehmen der Ernährungsindustrie, sondern auch ihre Lieferanten und Kunden vor eine Herausforderung, denn Reduktion und Kompensation von Emissionen wird nur in der gesamten Lebensmittelkette möglich sein. Hinzu kommen noch mögliche Belastungen durch eine Energiesteuer und durch den geplanten CO2-Grenzausgleichsmechanismus. Unternehmen sind hier vor allem mit steigenden Kosten konfrontiert, denen eine entsprechende Wertschöpfung gegenübergestellt werden muss.
2021 gilt es, auch die Pläne der Kommission zur Stärkung der Unternehmensverantwortung in Sachen Nachhaltigkeit konstruktiv zu begleiten. Dabei muss der angestrebte Coporate-Governance-Rahmen zu Nachhaltigkeit vor allem auch für kleine und mittelständische Unternehmen handhabbar bleiben. Auch wird im Rahmen der Transition hin zu nachhaltigeren Lebensmittelsystemen ein Dialog darüber entstehen müssen, welche konkreten Nachhaltigkeitsziele die Branche wann und wie erreichen kann.
Nicht nur für die Ernährungsindustrie, sondern für die gesamte Wirtschaft ist der für Frühjahr 2021 geplante Vorschlag der EU Kommission für eine gesetzliche unternehmerische Sorgfaltspflicht zu Menschenrechten und Umwelt besonders relevant. Wir brauchen hier eine EU-weit harmonisierte und praxistaugliche Regelung.
Weiter begleiten wird uns auch die Frage nach der Rohstoffverfügbarkeit. Die in der Farm-to-Fork-Strategie angekündigten Reduktionsziele beim Pflanzenschutz und der Düngung beziehungsweise die Ausweitung des Ökolandbaus führen zu erheblichen Ertragsminderungen. Diese Ziele gehören dringend auf den Prüfstand, damit unseren Unternehmen Rohstoffe in ausreichender Menge und zu bezahlbaren Preisen zur Verfügung stehen.
Das Interview führte Hanno Bender. Es ist zuerst in der Lebensmittel Zeitung erschienen.