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Exkurs I: Objektive vs. subjektive Wahrnehmung des Begriffs „Qualität“ durch den Verbraucher
22.07.2016
Prof. Dr. Ulrich Nöhle, Honorarprofessor TU Braunschweig, Krisenmanagement Food & Feed
Die Ansprüche an die einzelnen Merkmale eines Lebensmittels setzen sich zusammen aus den
> physikalischen Parametern (z.B. Gewicht, Dichte, Länge, Breite, Höhe, u.a.)
> chemischen Parameter (z.B. Fett, Eiweiß, Kohlenhydrate, Säuregrad, Rückstände, u.a.)
> mikrobiologischen Parameter (erwünschte Mikroorganismen (z.B. in Joghurt), unerwünschte Mikroorganismen (z.B. Salmonellen, Listerien)
> sensorischen Parametern (Aussehen Äußeres, Aussehen Inneres, Geruch, Geschmack, Konsistenz nach fest gelegten deskriptiven Kriterien)
> ernährungsphysiologischen Parametern (Brennwert, An- oder Abwesenheit bestimmter Inhaltsstoffe wie essentielle Aminosäuren, Vitamine, Mineralstoffe)
Diese Parameter sind definiert in
> Rechtsvorschriften (EU-Verordnungen, Nationales Recht, Landesrecht)
> Leitsätze des Dt. Lebensmittelbuches, Leitsatzurteile, ISO/EN/DIN-Normen, Industrierichtlinien
> Beschreibungen des Herstellers auf der Verpackung, in Begleitdokumenten oder in Werbeaussagen
Die Erfüllung dieser –
objektiven – in technischen Spezifikationen niedergelegten Ansprüche ist die Aufgabe des Lebensmittelherstellers und bestimmt die Qualität des Produktes. Die Nichterfüllung eines oder mehrerer dieser Parameter führt zu einem oder mehreren Fehlern.
Der Kunde kennt in der Regel weder die Rechtsvorschriften, denen die Lebensmittelerzeugung unterliegt noch die einzelnen Parameter, die die Lebensmittel zu erfüllen haben, sondern beurteilt ein Lebensmittel nach ganz anderen Kriterien, nämlich nach den für ihn –
subjektiven – Eindrücken wie
> Geschmack („schmeckt gut“, „geht so“, „mag’ ich nicht“)
> Preis („zu teuer“, „billig“, „o.k.“)
> „Convenience“ (z. B. Gebrauchseigenschaften, Zubereitungsart, Aufbewahrungsbedingungen, Mindesthaltbarkeit des Produktes u.a.)
Folgende Beispiele verdeutlichen diese unterschiedlichen Auffassungen der zu erfüllenden Ansprüche an ein Lebensmittel von Hersteller- und Verbraucherseite.
BEISPIEL 1
Ein
Fruchtjoghurt A enthält 0,1 Prozent Fett im Milchanteil, 2 Prozent passierte Früchte sowie ein Pfirsicharoma und kostet 29 Cent/200 g.
Ein
Fruchtjoghurt B enthält 10 Prozent Fett im Milchanteil, 20 Prozent große, bissfeste Pfirsichstückchen, kein Aroma und kostet 99 Cent/200g.
Welcher Joghurt hat die höhere Qualität?
Der weit überwiegende Anteil der Verbraucher antwortet
subjektiv mit „B“, weil die großen Pfirsichstückchen gepaart mit dem hohen Milchfettgehalt von 10 Prozent einen sehr sahnigen und fruchtigen Geschmack ergeben und einen sehr „wertigen“ Gesamteindruck vermitteln. Doch der Joghurt B erfüllt lediglich die auf dem Etikett ausgelobten und ggf. in Rechtsvorschriften fest gelegten, einzelnen Merkmale; er ist somit fehlerfrei und hat „Qualität“. Doch das gilt genau so für Joghurt A, wenn er die an A gestellten, erwarteten Merkmale erfüllt, also „nur“ 0,1 Prozent Fett, „nur“ 2 Prozent passierte Früchte und „nur“ ein Pfirsicharoma. Stellt sich aber bei Joghurt „B“ heraus, dass der Fettgehalt im Milchanteil gar nicht 10 Prozent, sondern nur 8 Prozent beträgt oder dass die Pfirsichstückchen nur 1 mm gross sind und nur zu 5 Prozent enthalten sind, so hat das Produkt Fehler – eben „keine Qualität“ oder „Nicht-Qualität“ oder eine niedrige Qualität. Der Kunde wird enttäuscht sein, weil der die Einhaltung der ausgelobten, zweifellos anspruchsvollen Merkmale erwartet hat und diese aber nicht erfüllt wurden. Beim Joghurt A dagegen konnte er keine ganzen Pfirsichstückchen erwarten, sondern nur ein Pfirsicharoma, weil nichts anderes (hier auf dem Etikett) versprochen und erfüllt wurde. Hier hat „A“ Qualität!
BEISPIEL 2
Eine traditionell hergestellte, pasteurisierte
Frischmilch A hält sich rund zehn Tage bei einer Lagertemperatur von +2 bis +8 Grad C.
Die seit 2009 auf dem Markt befindliche pasteurisierte, mit dem claim „länger haltbar“ (anderes Erhitzungsverfahren, Milch zusätzlich mikrofiltriert) ausgelobte
Frischmilch B hält sich dagegen 21 Tage bei gleicher Temperatur.
Eine
ultrahocherhitzte Milch C (durch Erhitzung sind alle vegetativen Keime abgetötet = H-Milch) hält sich drei Monate bei Raumtemperatur.
Welche Milch hat die höhere Qualität?
Nach
objektiven Kriterien haben alle Milchen „Qualität“, wenn sie die definierten Merkmale (in diesem Falle also die Haltbarkeit bei einer bestimmten Temperatur) erfüllen. Erreicht eine der beschriebenen Milchen die ausgelobte Haltbarkeit jedoch nicht, so weist sie einen Mangel auf, weil sie für den vorgesehenen Zweck nicht geeignet ist.
Der Verbraucher beurteilt die Qualität jedoch
subjektiv ganz anders. Einige Verbraucher lehnen die länger haltbare Milch B aus Prinzip ab, weil sie der Meinung sind, „frische Milch“ dürfe sich nicht 21 Tage halten, sondern müsse möglichst rasch verderben, nur dann sei sie wirklich „frisch“ (gewesen). Wieder andere Verbraucher, meist Singlehaushalte mit einem geringen Verbrauch an Milch, freuen sich über die verlängerte Haltbarkeit der Milch B, weil sie die Milch länger im Haushalt verwenden können und bevorzugen sie bewusst. Wieder andere Verbraucher lehnen jegliche H-Produkte ab, weil sie meinen, diese seien „tot erhitzt“, weil sie – sachlich richtig – die natürliche Flora nicht mehr enthielten. Doch das ist kein Fehler, sondern ja genau das Ziel der Ultrahocherhitzung. Fährt jedoch der gleiche Verbraucher mit seinem Campingmobil oder mit seinem Segelboot in den Urlaub, so kauft er plötzlich bewusst die H-Milch C, weil er genau weiß, dass mangels Kühlkapazität auf seinem Boot Frischmilch sofort verderben würde, H-Milch aber nicht. Zuhause wieder angekommen, steigt er wieder auf Frischmilch um.
Hier zeigt sich, dass der Qualitätsbegriff trotz Erfüllung aller technischen und rechtlichen Ansprüche durch das jeweilige Produkt beim Verbraucher eine völlig andere Wahrnehmung erfährt, die sich in vielen Fällen auch noch je nach geplanter Verwendung – „Convenience“ – für das gleiche Produkt verändern kann.
BEISPIEL 3
Ein direkt gepresster Apfelsaft aus Äpfeln aus kontrolliert biologischem Anbau für 2,29 EUR/l steht einem Apfelsaft aus rückverdünntem Konzentrat aus konventionell erzeugten Äpfeln für 0,49 EUR/l im Regal gegenüber.
Welcher Saft hat die höhere Qualität?
Erfüllen beide Säfte die an sie gestellten jeweiligen Anforderungen, so unterscheiden sie sich nicht (!) in der Qualität. Sie unterscheiden sich allerdings sehr wohl in ihrer jeweiligen Anspruchsklasse der Zutaten: „Bio“ versus „konventionell“ bzw. der Herstellungsweise: „direkt gepresst“ versus „rückverdünnt aus Konzentrat“. Hier wird von vielen Verbrauchern der Begriff Qualität mit dem der Anspruchsklasse verwechselt.
FAZIT
Qualität:
Erfüllung der jeweils an das Produkt gestellten Anforderungen; frei von Fehlern und Mängeln
Anspruchsklasse:
Rang verschiedener Qualitätsforderungen für den gleichen funktionalen Gebrauch