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„Es gibt kaum eine Branche, die so sehr im persönlichen und öffentlichen Interesse steht“
06.02.2019
Am 27. Februar 2019 veranstaltet die BVE in Kooperation mit der AFC Risk & Crisis Consult eine neue Ausgabe ihrer Veranstaltungsreihe BVE-Krisenmanagement – diesmal zum Thema „Krisenmanagement & Behörde“. Wir haben diesen Anlass genutzt und mit Dr. Michael Lendle, Geschäftsführer der AFC Risk & Crisis Consult, über die Relevanz des Themas für die Ernährungsbranche, über universelle Maßnahmen, die im Falle einer Krise unbedingt vonseiten der Unternehmen beachtet werden sollten, sowie über politische Herausforderungen gesprochen.
BVE: Herr Lendle, wann spricht man in einem Unternehmen von einer Krise?
Michael Lendle: Der Krisen-Klassiker ist für viele Lebensmittelunternehmen immer noch der Produktrückruf aufgrund festgestellter Verunreinigungen, die mit einer möglichen Unsicherheit der Lebensmittel einhergehen. In unserer Beratungsarbeit stellen wir allerdings eine vermehrte Risikowahrnehmung für Produktmarken und Unternehmensreputation fest. So sehen Unternehmen die drohende Krise beispielsweise bereits bei Ankündigung der Veröffentlichung von Testurteilen oder Anfragen von Medien bzw. NGOs. Ein Grund für diese gesteigerte Empfindsamkeit ist die zunehmende öffentliche Skandalisierung tatsächlicher oder vermeintlicher Missstände, die bei Verbrauchern das Misstrauen gegenüber Lebensmitteln und deren Herstellern wecken. Im Krisenfall zeigt sich dann, ob und in wie weit das vorhandene Misstrauen von Verbrauchern und anderer Anspruchsgruppen, insbesondere Medien und NGOs berechtigt ist. Nicht wenige Unternehmen haben schmerzlich erfahren müssen, dass veröffentlichte Vorfälle das Vertrauen in Produkt und Marke oder sogar in das Unternehmen kosten kann. Die Folgen sind nicht nur erkennbar in Konsumverzicht und Umsatzrückgängen, sondern auch im Image- und Reputationsschaden durch öffentliche Diffamierung bis hin zur Existenzbedrohung oder gar Betriebsschließung.
BVE: Warum ist das Thema „Krisenmanagement“ gerade für die Ernährungsindustrie so relevant?
Michael Lendle: Es gibt kaum eine Branche, die so sehr im persönlichen wie auch öffentlichen Interesse und der medialen Aufmerksamkeit steht wie die Lebensmittelwirtschaft. Krisenfälle wie Dioxin, EHEC, Pferdefleisch und Fipronil zeigen, wie sensibel eine breite Öffentlichkeit auf „Skandale“ reagiert und zumindest eine mediale Eskalation nicht auszuschließen ist. Lebensmittelunternehmen tun also gut daran, mit weitreichenden Maßnahmen nicht nur für hohe Qualitäten und unbedingte Sicherheit im eigenen Betrieb zu sorgen, sondern in Zeiten globalisierter Warenströme auch die Risiken entlang der Lieferketten nachhaltig abzusichern. Zudem sollten sich Unternehmen auf das gesteigerte öffentliche Interesse an der Herstellung von Lebensmitteln und damit einhergehend auf die gesteigerten Ansprüche nach Offenheit und Transparenz einstellen. In den letzten Jahren hat sich eine Art von „Geschäftsmodell der Marktwächter“ entwickelt, das einzelne Unternehmen oder ganze Branchen enorm unter Druck setzen kann. Geradezu populär ist dabei das Zusammenspiel bestimmter NGOs und Medien bei der zuweilen wenig gründlichen Recherche und ungefilterten Veröffentlichung mehr oder minder berechtigter Vorwürfe, um letztendlich das eigene Spendenaufkommen und die öffentliche Aufmerksamkeit nachhaltig zu erhöhen.
BVE: Auf was sollte man in einer Krise unbedingt achten? Gibt es Maßnahmen, die universell gelten?
Michael Lendle: Viele Unternehmen sind auf eine solche Ausnahmesituation wie die Produkt- oder Reputationskrise nur bedingt vorbereitet. Dies liegt zum einen in der fehlenden Erfahrung mit eigenen Vorfällen oder im nur wenig vorhandenen Wissen im angemessenen Umgang mit krisenhaften Ereignissen. Für eine professionelle Vorbereitung auf den Ernstfall ist neben dem Vorhandensein eines funktionsfähigen Krisenteams auch eine skizzierte Ablaufplanung für ein wirkungsvolles Vorgehen im Krisengeschehen notwendig. Zwar schreibt jeder Krisenfall seine eigene Geschichte, aber für ein effizientes Krisenmanagement und angemessene Krisenkommunikation ist zunächst die Erfassung und Prüfung kritischer Informationen für eine erste Bewertung des Sachverhaltes und Einschätzung der Situation unerlässlich. Auf dieser Basis lassen sich potenzielle Risiken mehrdimensional analysieren und das gegebene Gefahrenpotenzial – insbesondere für Verbraucher, aber auch die eigene Unternehmung – hinreichend bewerten. Die anstehenden Entscheidungen zur dringlichen Umsetzung erforderlicher Maßnahmen reicht bei der Produktkrise von der Sperrung betroffener Chargen bis hin zur Vorbereitung und Durchführung marktbezogener Maßnahmen wie Rücknahme oder Rückruf der Produkte unter Einbindung zuständiger Behörden. Eine angemessene Information relevanter Marktbeteiligter wie Kunden und Verbraucher mit entsprechenden Mitteilungen und Meldungen sollte durch eine zielgerichtete und bestenfalls multimediale Krisenkommunikation erfolgen.
BVE: Welche politischen Herausforderungen sehen Sie beim Thema?
Michael Lendle: Unser föderales System in Deutschland hat sich im gesundheitlichen Verbraucherschutz sicherlich bewährt und sollte im Sinne einer hinreichenden Überwachung der Lebensmittelunternehmen durch Behörden vor Ort auch nicht grundlegend verändert werden. Aber dem Umstand geschuldet, dass beispielsweise Produktrückrufe aufgrund der Verbreitung betroffener Chargen oftmals ein überregionales Ereignis darstellen, bedarf es eines abgestimmten und damit einheitlichen Vorgehens aller Marktbeteiligten. Weder die Risikobewertung einer Gesundheitsgefahr noch die Entscheidung für marktbezogene Maßnahmen wie auch die Inhalte der Öffentlichkeitsarbeit dürfen im Sinne eines vollumfänglichen Verbraucherschutzes politischen Einflüssen unterliegen. Um bundesweit einen zielführenden und angemessenen Umgang mit krisenhaften Ereignissen zu gewähren, bedarf es einer klaren Regelung und weitreichenden Harmonisierung des Vorgehens, die im Falle eines Falles eine professionelle Zusammenarbeit zwischen verantwortlichen Unternehmen und zuständigen Behörden ermöglicht.
Viele Rückrufaktionen erfolgen rein vorsorglich im Sinne des vorbeugenden Verbraucherschutzes. Nicht selten stellt sich nach abschließender Bewertung der Produktsicherheit heraus, dass die durchgeführten Rückrufaktionen im Sinne des gesundheitlichen Verbraucherschutzes nicht wirklich erforderlich gewesen wären und damit verzehrfähige Lebensmittel vom Markt genommen und auch vernichtet wurden. Unternehmen stehen daher bei der Entscheidung zur Marktentnahme nicht selten vor dem Zielkonflikt zwischen Vorsorgemaßnahme im Sinne des „Verbraucherschutzes“ und der Vermeidung von Lebensmittelverschwendung im Sinne des „Umweltschutzes“. Sicherlich kann und soll die Politik den Unternehmen die Entscheidung zur Marktentnahme nicht abnehmen, aber durch eine Ergänzung der öffentlichen Diskussion um ethische wie auch nachhaltige Aspekte wird das Bewusstsein für Lebensmittelverschwendung gestärkt und die Erwartung der Stakeholder zuweilen relativiert.