Inhalt
Insekten auf dem Teller – Ausnahmeerscheinung oder bald Normalität?
08.10.2019
Der Verzehr von Insekten beschäftigt in Deutschland zunehmend die Verbraucherinnen und Verbraucher, die Medien und die Industrie. Doch inwieweit sind Insekten als Nahrungsmittel wirklich zukunftsfähig? Wie sind die Absatz- und Produktionsbedingungen von Insekten in Deutschland? Und inwieweit können sie global zu einer gesunden Ernährung aller Menschen beitragen? Im Interview liefert Dr. Sarah Nischalke, wissenschaftliche Mitarbeiterin des Zentrums für Entwicklungsforschung der Universität Bonn (ZEF) und Projektleiterin von ProciNut (Produktion und Verarbeitung essbarer Insekten für eine verbesserte Ernährungslage) Antworten auf diese Fragen.
BVE: Erst einmal ganz allgemein: Welche Vorteile hat der Verzehr von Insekten?
Dr. Sarah Nischalke: Da gibt es viele Antworten. Insekten sind eine sehr effiziente Proteinquelle und enthalten oft auch noch andere wichtige Nährstoffe. Gezüchtete Insekten sind außerdem ein sehr ressourcenschonender Eiweißlieferant, insbesondere im Vergleich zu Fleisch. Sie brauchen deutlich weniger Futter, um die gleiche Menge an nutzbarem Protein zu bilden, und weniger Wasser. Insgesamt haben sie einen geringeren CO2-Auststoß. Daher werden sie als nachhaltig und ökologisch gefeiert. Im Hinblick auf die wachsende Weltbevölkerung ist die Erschließung „neuer“ nachhaltiger Nahrungsmittelquellen natürlich grundsätzlich interessant. Manche Insektenkonsumenten argumentieren auch, dass Insekten als wechselwarme Wesen weniger Leid als Säugetiere bei der Tötung erfahren müssen, aber da steckt die Forschung noch in den Kinderschuhen.
Außerdem schmecken viele Insektengerichte und -produkte lecker. Man kann neue kulinarische Erfahrungen machen und als Europäer seine kulturellen Grenzen erkunden, da wir der einzige Kontinent sind, auf dem Insekten kaum auf dem Speiseplan stehen.
BVE: In Deutschland stehen Insekten meist nur als exklusives Luxusnahrungsmittel für die Experimentierfreudigen auf der Speisekarte. Es gibt jedoch immer mehr verarbeitete Produkte wie Nudeln oder Burger-Patties, die zerkleinerte Insekten enthalten und auf den Markt drängen. Wie schätzen Sie die Bedingungen für den Konsum von Insekten in Deutschland ein? Bleibt er eine Ausnahme oder wird er bald zur Normalität?
Dr. Sarah Nischalke: Momentan ist es tatsächlich eher ein Luxustrend und nicht gerade etwas für den kleinen Geldbeutel. Trotzdem wollen die Menschen aller Altersgruppen mitreden können und fast jeder möchte mal probiert haben – und wenn es nur als Party-Gag oder Mutprobe ist. Somit findet momentan ein erster Gewöhnungsprozess statt, dank dem die Leute immer vertrauter mit der Idee oder dem Geschmack von Insekten werden. Langfristig gibt es sicherlich vor allem Potenzial in verarbeiteten Lebensmittel. Eine Branche, in der Insekten momentan schon sehr gefragt sind, ist die Fitnessindustrie. Dort wird vor allem für Energieriegel und ähnliche Produkte hochwertiges Protein gebraucht.
So wie im Falle vieler Trendnahrungsmittel wird es vermutlich auch den Insekten ergehen. Oft werden Sushi oder vegane Lebensmittel als Beispiele genannt, da sich vor einigen Jahrzehnten auch bei diesen niemand hätte träumen lassen, dass es sie mal in jedem Supermarkt geben würde. Der Konsum von Insekten könnte ebenfalls normaler werden. Aber auch in zehn Jahren werden sicherlich zu Weihnachten keine gebratenen Grillen auf dem Weihnachtsmenü der Mehrheit der Deutschen stehen.
BVE: Wie sehen die Produktionsbedingungen von Insekten in Deutschland aus? Inwiefern könnte man sie verbessern?
Dr. Sarah Nischalke: Ich kenne ehrlich gesagt nur die Produktionsbedingungen in Holland, wo die Produktion von essbaren Insekten schon sehr viel weiter fortgeschritten ist als hier, da die Gesetzeslage liberaler gestaltet wurde. Ähnlich sieht es auch in Belgien, Dänemark und der Schweiz aus. Deutschland ist da etwas langsamer oder auch vorsichtiger unterwegs. Soweit ich weiß, sind die Produktionsstätten in Deutschland aber ähnlich wie in Holland. Aus meiner Erfahrung sind sie meist spezialisiert auf eine Insektenart. Sie haben große geheizte Räume, da Insekten es warm mögen und dann schnellstmöglich wachsen und sich vermehren. In diesen Räumen gibt es lange Regalreihen, in denen unzählige Boxen übereinander eingehängt werden. In jeder Box befinden sich Insekten einer Art (z.B. Mehlwürmer) in einem bestimmten Stadium des Lebenszyklus. Insgesamt kann man sagen, dass es noch sehr viel Grundlagenforschung bedarf. Die HAS University in den Niederlanden führt momentan umfangreiche Untersuchungen dazu durch, wie sich die Anzahl der Mehlkäfer (für die Mehlwürmerproduktion), beziehungsweise die Anzahl von vorhandenen Männchen und Weibchen in einer Box auf die Reproduktionsrate auswirkt.
Die Notwendigkeit einer intensiveren Grundlagenforschung ist dabei kein rein europäisches Problem. Es gibt zwar schon zwei Jahrzehnte Produktions- und Zuchterfahrung in Thailand, aber sehr wenig ist wissenschaftlich dokumentiert und untersucht, daher gibt es noch viele weiße Flecken auf der Landkarte. Man weiß noch wenig über die idealen Produktionsbedingungen, wie sich die Nährwerte verschiedener Arten durch bestimmtes Futter oder durch verschiedene Verarbeitungsprozesse verändern, oder welche Methode am vorteilhaftesten aus Sicht des Tierwohls ist. Die Liste ist lang. Es gibt in den nächsten Jahren in diesem Bereich sehr viel zu tun und in Deutschland noch sehr wenige Institutionen, die sich der Thematik angenommen haben.
Darüber hinaus ist die Massenproduktion von Insekten auch noch ein neues Phänomen und wird aller Voraussicht nach wieder neue Probleme mit sich bringen. Denn je größer der Produktionsmaßstab wird, desto anfälliger ist die Produktion auch für Krankheiten. Insekten sind zwar weniger empfindlich als Säugetiere, können aber auch von Pilzen, Bakterien und Viren befallen werden. Somit ist langfristig der Einsatz von zum Beispiel Antibiotika in der Insektenproduktion nicht auszuschließen.
Ein letzter Aspekt, der nicht unerwähnt bleiben sollte, ist, dass unsere kühleren Breitengrade nicht ideal sind für die Insektenproduktion und es daher schwierig ist, ökologisch tragbare und nachhaltige Systeme zu erschaffen. Deswegen ist es wichtig zu schauen, wie Insekten in existierende Energiekreisläufe eingebaut werden können. Es gibt zum Beispiel den Vorschlag, die Insektenfarmen an Heizkraftwerke in der Landwirtschaft anzuschließen.
BVE: Eignen sich alle Insekten gleich gut?
Dr. Sarah Nischalke: Nein, es gibt natürlich Insekten, die überhaupt nicht für den Verzehr geeignet sind. Bisher ist in der Literatur die Sprache von ca. 2000 essbaren Insektenarten, davon werden aber fast alle wild gesammelt und nur ein Dutzend wird in der Produktion oder Zucht genutzt. Insekten, die einen kurzen und einfachen Lebenszyklus sowie weniger hohe Ansprüche an Futter haben, eignen sich besonders gut. In Myanmar gibt es zum Beispiel eine Grillenart (Riesengrille), die im ganzen Land heiß begehrt ist, aber einen Lebenszyklus von 10 Monaten hat und bevorzugt unter der Erde lebt. Selbst wenn man es schafft, solche Bedingungen nachzuahmen, dauert es zu lange und man hat zu wenig Kontrolle darüber, was unter der Erde vor sich geht, als dass sich die Zucht wirtschaftlich lohnen könnte. Manche Insekten sind auch auf eine bestimmte Nahrungsquelle festgelegt, zum Beispiel der Bambuswurm. Für seine Aufzucht muss ein lebendiger Bambus mit einem entsprechenden Durchmesser von 10 cm vorhanden sein. Solche Arten sind nur regionalspezifisch züchtbar. Auch für die Verarbeitung eignen sich manche Insekten besser als andere beziehungsweise müssen die Technologien entsprechend angepasst werden. Bei ausgewachsenen Insekten ist oft ein Ziel, die Menge an Chitin zu reduzieren, um das Allergierisiko zu minimieren, während Larven besonders viel Fett und Flüssigkeit enthalten und dann entsprechend länger oder intensiver bearbeitet werden müssen.
BVE: Eine Ernährung, die auch auf Insekten basiert, gilt häufig als Lösung für das Problem des globalen Hungers. Inwieweit sind solche Hoffnungen gerechtfertigt?
Dr. Sarah Nischalke: Im europäischen Raum würde ich essbare Insekten tatsächlich als aktuellen hippen Trend einstufen, der dafür sorgen wird, dass sich der Verzehr etwas ausweitet. Der globale Süden profitiert einerseits durch Exportmöglichkeiten, aber auch durch lokale Trends der jungen und modernen Mittelschichten, die zu ihrem Bier ein paar Grillen snacken wollen. Es gibt beim Insektenkonsum ein starkes Stadt-Landgefälle. Bauern haben oft einen besseren Zugang zu den wildlebenden Insekten als Städter. Diese wiederum haben die finanziellen Mittel, um sich die oft recht teuren Insekten leisten zu können.
Als Lösung für den globalen Hunger gibt es im Bereich Essinsekten zunächst mal das Problem des Zugangs zu Lebensmitteln für die Bevölkerungsgruppen, die das Protein dringend gebrauchen könnten und für die die Insekten aber oft nicht erschwinglich sind. Die industrielle Insektenproduktion kann sich längerfristig positiv auf die Preise auswirken und entlastet die Populationen in der Wildnis.
Im Bereich Welternährung liegt die große Hoffnung aber nicht auf den Insekten für den menschlichen Verzehr, sondern auf den Futterinsekten in der Fleischproduktion. Im globalen Süden nehmen die ärmeren Bevölkerungsgruppen oft zu wenig tierisches Protein zu sich und die Bauern sind oft nicht in der Lage, ihre Hühner oder Schweine gut zu füttern. Als Fischfutter sind einige Insektenarten in Deutschland schon zugelassen, für Hühner und Schweine läuft die Prüfung noch. Da wird sich sehr viel tun in den nächsten Jahren und diese Trends werden sich auch auf den globalen Süden ausweiten. Ein besonders prominentes Insekt sind die Larven der schwarzen Soldatenfliege, da diese keine hohen Ansprüche an Futter stellt und gut mit organischen Abfällen gefüttert werden kann. Sie ist zwar essbar, aber nicht besonders schmackhaft und vor allem als Tierfutterinsekt geeignet. Somit werden im europäischen Raum in Zukunft Insekten wohl eher indirekt auf dem Teller landen, während sie weltweit dafür sorgen werden, dass insgesamt mehr Menschen Zugang zu tierischem Protein haben werden.
BVE: Vielen Dank für das Interview!