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Sechs Monate EU-Handelsvertrag: Ein Brexit-Fazit mit Ausblick
02.07.2021
Skeptisch sahen Unternehmen auf beiden Seiten des Ärmelkanals dem Brexit entgegen. Der Handelsvertrag zwischen Brüssel und London gab Hoffnung. Ein halbes Jahr nach der Trennung vom EU-Binnenmarkt zieht die Wirtschaft ein kritisches Fazit. Neue Zollhürden treiben die Kosten, sowohl Importe als auch Exporte brachen stark ein. 42 Prozent der Unternehmen der Ernährungsindustrie erwarten weiter sinkende Absätze.
Am 23. Juni 2016 entschieden die Briten in einem Referendum, die Europäische Union zu verlassen. Auf den angekündigten Brexit folgten Jahre der Unsicherheit im Hinblick auf die künftigen Wirtschaftsbeziehungen. Am 01. Januar 2021 war Großbritannien nach schwierigen Verhandlungen schließlich aus der EU-Zollunion und dem Binnenmarkt ausgeschieden. Daraufhin kam es zu Lieferproblemen wegen neuer Vorschriften und Formalitäten.
Die Handelsvereinbarung zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich garantiert weitgehende Zollfreiheit und verzichtet auf Quoten. Doch damit der „Nulltarif“ zustande kommt, müssen zahlreiche Formalien abgewickelt werden: Zollformulare, Nachweise über die Herkunft von Waren, spezielle Auflagen und deren Kontrolle und vieles Weitere. Durch das Mehr an Bürokratie entstehen Handelshemmnisse und nicht zuletzt Umsatz- und Ergebniseinbrüche wegen zusätzlicher Verwaltungskosten, Abgaben und gestiegener Transportkosten.
Die deutsche Ernährungsindustrie erwartet sinkende Absätze
Generell sind die Einfuhren aus der EU ins Vereinigte Königreich im Vergleich zu 2019 um 23 Prozent zurückgegangen. 42 Prozent der Unternehmen der deutschen Ernährungsindustrie erwarten weiter sinkende Absätze in Großbritannien für die kommenden sechs Monate. Das ergab eine Umfrage der AFC Management Consulting im Auftrag der BVE anlässlich des 9. Außenwirtschaftstages der Agrar- und Ernährungswirtschaft. 18 Prozent der befragten Firmen gehen von steigenden, 40 Prozent von gleichbleibenden Absätzen aus. Damit ist das Vereinigte Königreich ein Ausreißer bei den Absatzerwartungen der deutschen Ernährungsindustrie in Nicht-EU-Länder, die überwiegend positiv bewertet wurden. Die gesamte Studie können Sie
hier downloaden.
Dr. Christian von Boetticher, Vorstandsvorsitzender der Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie, führte die sinkenden Exporterwartungen auf die erheblichen Regularien und Dokumentationen zurück, die angesichts der großen Exportmengen, die die Lebensmittelhersteller über die britische Grenze bewegen, eine Herausforderung seien. In seinem Grußwort auf dem Außenwirtschaftstag appellierte er im Hinblick auf die im Herbst fällig werdenden Anforderungen an die Veterinärzertifikate daran, in den Behörden die notwendigen Kapazitäten zu schaffen, um die Unternehmen der Ernährungsindustrie bestmöglich bei der Bewältigung dieser Herkulesaufgabe unterstützen zu können.
Stefanie Sabet, Geschäftsführerin der Bundesvereinigung der BVE, ist optimistisch, dass sich die Handelsströme anpassen werden: „Für die meisten Lebensmittelexporteure ist das Großbritanniengeschäft handhabbar, wenngleich Aufwand und Kosten deutlich gestiegen sind. Daher wollen oder können auch nicht alle Unternehmen weiterhin den britischen Markt mit seinen Drittlandshürden bedienen und orientieren sich in anderen Märkten.“
Fast 50 Prozent weniger Nahrungsmittel und Getränke
Auf der anderen Seite des Kanals sind die britischen Exporte von Nahrungsmitteln und Getränken in die EU im ersten Quartal 2021 um fast die Hälfte (47 Prozent) auf rund 1,7 Milliarden Pfund eingebrochen. Landwirtschaftliche Produkte sind von den zusätzlichen Handelsschranken besonders betroffen, da sie neben Einfuhr- und Zollgenehmigungen spezielle veterinärmedizinische Checks oder Lebensmittezertifikate benötigen. Das sorgt für Verzögerungen beim Transport und für teilweise erhebliche Zusatzkosten. Verderbliche Ware überdauert die langen Wartezeiten an der Grenze zudem schlicht und ergreifend nicht. Die Nachfrage nach britischer Sahne und Milch ist im Vergleich zu 2019 um 90 Prozent gesunken, nach Käse wie dem britischen Cheddar um 72 Prozent. Die Ausfuhr von Fisch hat sich halbiert, Whiskey verlor 32 Prozent.
„Der Verlust von Exporten im Wert von zwei Milliarden Pfund in die EU ist ein Desaster für unsere Branche und ein sehr deutliches Zeichen für das Ausmaß der Verluste, die britischen Herstellern wegen der neuen Handelsbarrieren mit der EU längerfristig drohen”, sagte Dominic Goudie, zuständig für internationalen Handel beim Branchenverband Food and Drink Federation (FDF), der Zeitung „Die Welt“. Die Regierung solle endlich „aufhören, Ausflüchte zu suchen”, und Initiativen unterstützen, um Exporteuren zu helfen, die vom Handel mit der EU inzwischen weitgehend ausgeschlossen seien.
Nach Aussagen der britischen Regierung sei es noch zu früh, um die längerfristigen Auswirkungen des Brexit eindeutig zu beurteilen. Sie spricht häufig von „teething problems“, Kinderkrankheiten, die sich schon einruckeln würden. Doch bereits jetzt ist absehbar, dass es dauerhafte Probleme geben wird. Einzelne Unternehmen haben bereits begonnen, Teile ihrer Produktion auf das europäische Festland zu verlagern, darunter auch einige Lebensmittelproduzenten.
„Wann Lieferketten wieder genauso reibungslos wie vor dem 31. Dezember 2020 operieren werden, ist unklar. Deswegen haben viele Unternehmen unter anderem in längerfristige Lagerkapazitäten investiert“, sagte Ulrich Hoppe, Chef der Deutsch-Britischen Handelskammer AHK in London, der dpa. Das treibt die Kosten - und dämpft das Wirtschaftswachstum im ersten Quartal um einen Prozentpunkt, wie Michal Stelmach von der Beratungsgesellschaft