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„Blockchain heißt zuallererst: kultureller Wandel“
02.04.2019
Die Digitalisierung bietet für Unternehmen der Ernährungsindustrie viele Möglichkeiten, ihre Effizienz zu steigern. Im Gemeinschaftsinterview mit Anne Wunsch, Managerin Logistik + Supply Chain Management (GS1 Germany) und Patrik Rothe, Teamleiter Client Management (fTRACE) gehen wir der Frage nach, wo Blockchain-Technologie Vorteile bringen kann
BVE: GS1 Germany hat das Pilotprojekt „Palettentausch mit Blockchain-Technologie“ durchgeführt. Welche Vorteile konnten Sie feststellen und inwiefern glauben Sie, dass diese Art des Palettentauschs bald zur Normalität wird?
Anne Wunsch: In unserem Projekt stand neben der grundsätzlichen Erprobung von Blockchain insbesondere eine Frage im Mittelpunkt: Kann die Technologie die Zettelwirtschaft im Palettentausch digitalisieren? Und die Antwort darauf ist zunächst einmal positiv. Der papierbasierte Palettenschein lässt sich mittels Blockchain digitalisieren und in einer mobilen Anwendung abbilden. Die gesteigerte Effizienz im Palettentauschprozess wurde im Projekt an unterschiedlichen Stellen sichtbar – zum Beispiel direkt an den Laderampen und auch in der Belegabwicklung. Die Projektergebnisse bestätigten zudem den qualitativen Nutzen: Die meisten Mitarbeiter, die den Palettentauschprozess mit Blockchain getestet haben, würden die mobile Anwendung gern weiterhin nutzen, statt Palettenscheine händisch auf Papier auszufüllen und abzuheften. Auch rein technisch ist unser Fazit ein durchaus positives: Als Basis wurde die MultiChain-Technologie genutzt, mit der sich die Anforderungen aller Teilnehmer des Palettentauschprozesses umsetzen ließen. Das Zusammenwirken verschiedener Cloud-Infrastrukturen stellte ebenfalls kein Problem dar. Solange die Interoperabilität gewährleistet ist, lassen sich Blockchain-Projekte aus unserer Sicht relativ unkompliziert umsetzen.
Doch unser Test hat auch gezeigt, dass sich der Palettentausch auf technischer Ebene auch ohne Blockchain und stattdessen mit einer anderen Lösung digitalisieren und umsetzen ließe. Der große Mehrwert von Blockchain lag im Projekt eher auf politisch-organisatorischer Ebene: Die zugrundeliegende Distributed Ledger-Technologie erlaubt es den Blockchain-Teilnehmern, ihre Daten in dezentrale Transaktionsdatenbanken zu geben, anstatt sie einer einzigen zentralen Instanz anzuvertrauen. Das hilft Vorbehalte ab- und Vertrauen aufzubauen. Denn Blockchain erzeugt nicht automatisch Vertrauen in die anderen Business Partner. Im Gegenteil: Technologischen Lösungen wird heute nach wie vor eher misstraut. Stichworte sind zum Beispiel Datenhoheit, Datenschutz und Vertraulichkeit von Informationen. Doch Vertrauen ist eine grundlegende Voraussetzung, um die Potenziale der Technologie voll ausschöpfen zu können. Darum bedeutet Blockchain mehr als nur die Anwendung einer Technologie – Blockchain heißt zuallererst: kultureller Wandel.
Somit lautet unser Fazit: Ja, unter gewissen Voraussetzungen bildet Blockchain eine gute Basis, um über die reine Digitalisierung des Palettenscheins hinaus einen großen Mehrwert und echte Synergieeffekte für das offene Palettentauschsystem zu erzeugen – vom Ringtausch über die Vermeidung von Leerfahrten bis hin zum minütigen Saldenausgleich. Im umgesetzten Projekt hat Blockchain den Rahmen für einen gemeinsamen Datenaustausch geschaffen. Das ist ein großer Mehrwert an sich. Aber das volle Potenzial von Blockchain entfaltet sich nur im Zusammenspiel mit anderen Technologien, wie zum Beispiel künstlicher Intelligenz oder wie in unserem Pilotprojekt der mobilen Anwendung. Zudem ist Blockchain heute noch keine ausgereifte Technologie, sondern wirft nach wie vor viele unterschiedliche Fragen auf. So zum Beispiel: Sind alle Daten vertrauenswürdig und korrekt? Welche Teilnahmebedingungen gibt es? Wie gestaltet sich die Finanzierung eines dezentralen Netzwerks? Welche rechtlichen Rahmenbedingungen sind bei einer dezentralen Blockchain zu berücksichtigen? Von daher besteht weiterhin der Bedarf nach Forschung, Erprobung und Praxiserfahrungen. Vor dem Hintergrund wird es voraussichtlich noch eine Weile dauern, bis diese Art von Palettentausch Normalität ist.
BVE: Inwiefern sehen Sie noch andere Möglichkeiten, die Blockchain Technologie innerhalb der Ernährungsindustrie einzusetzen?
Patrik Rothe: Die möglichen Einsatzfelder für Blockchain in der Ernährungsbranche sind aus unserer Sicht sehr vielfältig und beispielsweise auch im Zusammenspiel mit künstlicher Intelligenz sowie dem Internet of Things denkbar. Insbesondere im Bereich der Lebensmittelrückverfolgbarkeit gibt es mittlerweile einige Plattformen, die auf Blockchain aufbauen und mittels derer die Transparenz innerhalb der Lieferkette erhöht wird. So zum Beispiel
Provenance und
OriginTrail. In der Regel lässt sich die Manipulationssicherheit der integrierten Daten gewährleisten, wodurch das Vertrauen in die Lösungen wachsen kann. Auf der anderen Seite existieren noch viele offene Fragen und Herausforderungen, die es zu bewältigen gilt. Beispielweise: Was passiert, wenn personenbezogene Daten unverschlüsselt in eine Blockchain gelangen und nicht gelöscht werden können?
Grundsätzlich lässt sich die Rückverfolgbarkeit von Lebensmitteln aber auch ohne Blockchain erfolgreich realisieren. Das zeigt die Praxis bereits seit einigen Jahren. Doch ob mit oder ohne Blockchain: Voraussetzung für den elektronischen Datenaustausch ist an erster Stelle – neben der Verfügbarkeit von verlässlichen Daten – die Digitalisierung von Prozessen, die heute teilweise noch papierbasiert umgesetzt werden. Dies ist die Basis dafür, dass sich zum Beispiel Rückverfolgbarkeitsdaten automatisiert und in einer hohen Datenqualität mit anderen Unternehmen austauschen lassen.